Eindrücke zur Herbsttagung Bericht einer Seminaristin aus der Gemeinschaft Bingenheim, D

Eindrücke zur Herbsttagung Bericht einer Seminaristin aus der Gemeinschaft Bingenheim, D

Vor 100 Jahren begründete Rudolf Steiner mit dem heilpädagogischen Kurs die anthroposophische Heilpädagogik. Am 5. Oktober 2024 wurde die ,,Sektion für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung“ (engl.: Section for Inclusive Social Development) als 12. Sektion feierlich in die Gemeinschaft der Sektionen am Goetheanum aufgenommen. Obwohl während dieser Tagung öfter von der ,,Geburt“ der Sektion gesprochen wurde, ist das Ereignis der Sektionsgründung eher mit einer Taufe zu vergleichen, da die seit 1924 bestehende anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie bereits seit 1979 durch „die Konferenz“, ab 2017 durch „den Council“ an die Medizinische Sektion angeschlossen war.

Über 900 Menschen aus über 50 Ländern haben an dieser Veranstaltung beigewohnt und ihre Ideen und Vorschläge geteilt. Der 2. und 3. Bingenheimer Seminarkurs hat sich aufgemacht um bei diesem einmaligen Erlebnis dabei sein zu können und vom 2. bis zum 6. Oktober in das vielfältige Programm der lang ersehnten Tagung einzutauchen. Ich (Luzie, Seminaristin im 1. Jahr) habe mich ihnen angeschlossen. Wir wussten zu Beginn dieser Tagung nicht, was auf uns zukommen würde, und waren am Ende des ersten Tages sehr erschöpft, doch die Begeisterung wuchs mit jedem neuen Tag, so dass wir am Sonntag nicht mehr abreisen wollten. Von Anfang an erlebten wir ein Gefühl der tiefen Verbundenheit, weil überall auf der Erde, an den unterschiedlichsten Orten, Menschen mit all ihrer Kraft und gutem Willen für die gleiche Sache arbeiten. Wir bekennen uns dazu, Gleichberechtigung und Inklusion gemeinschaftlich bedingungslos möglich zu machen. Das ist einfach unglaublich! Ein Gefühl, das ich nie vergessen möchte und welches uns in Zeiten des Verzagens helfen soll.

Das Angebot an Vorträgen, Arbeitsgruppen und anderen Programmpunkten war enorm. Besondere Highlights für uns Seminarist:innen waren zwei Aufführungen in dem beeindruckenden Großen Saal. Das Eurythmie-Programm des Goetheanum Ensembles „An die Erde“, welches uns durch seine unglaublichen Farb- und Stimmungswechsel und die Kraft des Ausdrucks begeisterte. Eurythmie, wie wir sie davor noch nie gesehen hatten. Eine weitere Aufführung war das inklusive Tanztheater „HUMAN“, in welcher Schüler:innen der Waldorfschule Wetzikon, von Hof Wagenburg sowie der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik atemberaubende Choreographien mit extrem ausdrucksstarken Bildern präsentierten. Das hat allen im Saal Anwesenden gezeigt, dass Inklusion überall möglich ist, egal ob mit Rollstuhl oder ohne.

Die Arbeitsgruppen setzten sich alle mit unterschiedlichen Schwerpunkten mit der Heilpädagogik auseinander. Mit meiner Arbeitsgruppe hatte ich ein berührendes Erlebnis. Ich hatte die Möglichkeit, meinen älteren Bruder, dessen Diagnose sich im Autismus-Spektrum befindet, durch meine Worte vorzustellen. Wir haben dann eine Art Intervision versucht, in welcher die Kursleiterinnen mich interdisziplinär beraten haben. Am Abschluss der Arbeitsgruppe haben wir meinen Bruder mental in die Mitte genommen und ihm gedankt für seine individuelle Art und sein Wirken auf dieser Erde.  Ich bin unendlich dankbar für dieses liebevolle und aufrichtige Interesse, welches mir wie selbstverständlich entgegengebracht wurde. Ich habe das Gefühl, dass es genau darauf ankommt. Anteilnahme, Verantwortungsbewusstsein und Empathie sind genau die Kompetenzen, welche ich in dieser Heilpädagogik finde.

Ein weiteres Highlight für mich war die Ausstellung des Künstlers Greg Tricker über das Leben des Kaspar Hauser. Seine Werke sowie Bilder von vierzehn Künstler*innen mit Assistenzbedarf wurden im Goetheanum ausgestellt. Die Bilder zeigen, unter anderem, rührende und innige Momente von Kaspar mit seinem hölzernen Pferd, welches er für das erste Jahrzehnt seines Lebens als einziges Wesen kannte. Auf den Bildern erkennt man sein sanftes, reines Wesen, welches Tricker am Ende seines Bilder-Zyklus auch mit biblischen Szenen verknüpft. Tricker zeigt, wie aktuell Kaspars Geschichte ist und wie viel wir von dieser lernen können. Seine ausschließlich demütige Haltung, die keinen Hass kannte, trotz seines schweren Leids, macht ihn zu einem Vorbild, nicht nur wegen seiner Geschichte, sondern wegen seines reinen Wesens.

Auf mich hat es so gewirkt, als ob uns seine Geschichte lehrt, wie viel Respekt man Menschen mit Assistenzbedarf entgegenbringen muss (den es lange Zeit nicht gab und den es bis heute mancherorts täglich zu erkämpfen gilt), welche mir oft so viel reiner, empfänglicher und gütiger vorkommen als Menschen ohne Assistenzbedarf.

 

Was könnte man bei der nächsten Tagung noch mehr in den Vordergrund rücken?

Manches war mir persönlich noch zu unkonkret,- ich habe die Antworten auf die Fragen, mit denen ich zu der Tagung gekommen bin, aktiv suchen müssen. Aber dann habe ich sie auch gefunden. Das Vertrauen in die Antworten, welche die anthroposophische Heilpädagogik zu bieten hat, kam auf der großen Bühne etwas zu kurz … jedenfalls im Verhältnis zu unzähligen Metaphern, welche dann aber noch sehr viel Interpretationsspielraum ließen.

Mein Wunsch für die nächste Tagung und allgemein auch für die Anthroposophie wäre also, keine Scheu vor konkreten Aussagen.

In dieser Tagung konnte ich deutlich spüren, wie stark wir gemeinsam, als Bewegung, sind. Und dieses starke Gefühl war bei allen Teilnehmenden vorhanden

Das starke Gefühl, der Verbundenheit sowie das Bedürfnis des Kennenlernens, könnte aber auch genau das gewesen sein, was wir für die diesjährige Tagung gebraucht haben. 

 

Folgende Zitate sind mir besonders in Erinnerung geblieben:

Was ist Inklusion?

„Inklusion ist, wenn der Begriff nicht mehr nötig ist.“- Lehrer aus Bingenheim.

„Wir müssen unseren Mitmenschen mit Assistenzbedarf die Sicherheit geben, dass ihr Geschenk gut aufgenommen wird, so dass es nicht mehr schwer fällt, sich zu trauen, hier anzukommen.“ – in der Arbeitsgruppe.

Auch wenn ich nicht auf alle meine Fragen Antworten erhalten habe, lag auch für mich so viel Hoffnung in diesen Tagen, und so viel Energie für eine gemeinsame Zukunft.

Am Samstag Abend stand ich mit meinem Freund auf der Terrasse des Goetheanums. Durch das große Fenster des oberen Vordereingangs konnten wir die Ausstellung über Kaspar Hauser sehen, während unten auf dem Vorplatz fast alle 900 Teilnehmenden einen wunderschönen Volkstanz tanzten. Zwischen Gemälde und Kreistanz stehend, fühlte ich mich, als ständen wir zwischen der Vergangenheit und einer in die Zukunft strebenden Gegenwart. Wie Punkt und Kreis. Einer Vergangenheit, von welcher wir viel lernen können, die nie vergessen werden darf, und einer Gegenwart, die ganz in unseren Händen liegt. Zwischen diesen beiden Polaritäten steht für mich die Aufgabe, das Bewusstsein der Vergangenheit und der Zukunft in Worte zu fassen … und in Gebärdensprache.

Damit wir die diejenigen in die Mitte des Kreises heben, die es selbst nicht können, und für sie einstehen, denn es geht um sie.

Das Herz ist der Schlüssel der Welt
und des Lebens.
Man lebt in diesem hilflosen Zustande,
um zu lieben –
und andern verpflichtet zu sein.
Durch Unvollkommenheit
wird man der Einwirkung anderer fähig –
und diese fremde Einwirkung
ist der Zweck.
In Krankheiten sollen
und können uns nur andere helfen.
So ist Jesus, von diesem Gesichtspunkt aus,

allerdings der Schlüssel der Welt.

Novalis (zitiert von Karin Michael, Co-Leitung der Medizinischen Sektion, am Festabend)

 

Autorin: Luzie Se-Baradar, Auszubildende im Proseminar der Lebensgemeinschaft Bingenheim, D

Foto: Goetheanum/Xue Li