Bericht von der Reise zur Gemeinschaft Roshni in Lahore/Pakistan
von Sonja Zausch
Anfang April flog ich auf Einladung der Kollegen Mr. Durrani – Geschäftsführer – und Alexander Kühne – langjähriger deutscher Mitarbeiter im Leitungskreis, Hausverantwortlicher und Landwirt – nach Pakistan, um die Gemeinschaft Roshni kennenzulernen.
Der zweiwöchige Aufenthalt, mit zwei Ausflügen außerhalb der Stadt, war eine wunderbare Erfahrung, in der ich mich mit meinen Annahmen tief hinterfragen konnte und das Arbeitsfeld mit seinen Herausforderungen und der unglaublich wertvollen Arbeit, die in diesem Land für die Menschen mit Assistenzbedarf geleistet wird, umfassend kennenlernen durfte.
DIE GEMEINSCHAFT ROSHNI
Die Reise mit ihrem Verlauf war für mich ein Prozess aus dem «Theorie U-Bilderbuch»!
Zu Beginn war ich sehr beschäftigt, das Erleben vor Ort mit meinen Erfahrungen abzugleichen. Das passiert unbewusst, kann aber eine starke Wahrnehmung sein: am Fremden erwachen!
Im weiteren Erleben begann ich, das vor Ort liegende lebendig mit meinen Erfahrungen zusammen in den Dialog zu bringen und mir tiefere Fragen zu stellen zum Warum. Ich versuchte zu erkennen und zu verstehen.
Das brachte mich zum Fühlen und Mitfühlen. Wie geht es dem Menschen, der hier vor mir steht und mit sehr herausfordernden Gesten und Geräuschen mit mir Kontakt aufnimmt? – so viel Aufregung. Wie geht es der Person, die immer wieder mit ernstem Gesicht auf mich zugeht und mir tief in die Augen schaut, und mir dann präzise Worte auf Urdu zuspricht, und sich dann sehr entschlossen wieder abwendet und weggeht? Kurze Zeit später kommt er erneut – so eine große Entschlossenheit.
Oder ein anderer Mann, der mich unendlich oft am Tag mit «Hallo» begrüßte – ausdauernd und immer wieder unglaublich fröhlich! – unendliche Freude am Wiedersehen.
Beispiele von den großartigen Momenten, die sich mir tief eingeprägt haben: egal, welche Laut- und Sprachqualität mir begegnete, ich konnte meinem Gegenüber rein aus meinem inneren Erleben begegnen!
Diese tiefen Begegnungsmomente halfen mir, in ein Verhältnis zu den Fragen des Leitungsteams zu kommen, denn mit welchen Methoden und Strukturen können wir die Zusammenarbeit und damit auch die Lebenssituation für alle Menschen in Roshni gestalten?
Die Herausforderungen, die vorliegen, sind umfänglich und nach vielen Gesprächen kann ich sie so darstellen:
34 Männer und eine Frau mit Assistenzbedarf leben und arbeiten in zwei wunderschönen großzügigen Häusern, die in historischer Architektur-Tradition mit roten Lehmziegeln gebaut auf mich fast wie Klöster (Innenhöfe, Rundbögen, Rundkuppeln, Umgänge) wirken. Teilweise mitwohnend und auch aus der Umgebung kommend arbeiten ungefähr 20 Männer und drei Frauen in der Begleitung beim Wohnen und in den aktuell fünf Werkstätten – Bäckerei, Holz, Textil, Kunst und Landwirtschaft mit 12 Kühen und 40 Hühnern –, sowie in der Verwaltung.
Ungefähr 30 % der Klient:innen leben mit starken psychiatrischen Diagnosen, 30 % haben einen starken Unterstützungsbedarf aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen und 40 % können mit Unterstützung etwas produzieren und über einen etwas längeren Zeitraum mit einer Tätigkeit verbunden sein. Aufgrund der hohen Individualisierung der Klient:innen sind die Herausforderungen für die Mitarbeitenden enorm.
Für die Mitarbeitenden gibt es keine professionelle Ausbildung. Sie sind teilweise sehr jung, äußerst ambitioniert und von Herzen verbunden mit den Menschen, jedoch mit dem Verhalten der Klient:innen überfordert.
Herr Durrani hat mit seinem unternehmerischen Geist die große Gabe, mit sehr vielen anderen sozialen Einrichtungen und Unternehmen ein gutes Netzwerk zu gestalten. Keine Organisation aus diesem Netzwerk hat jedoch vergleichbare Anforderungen.
Die Klient:innen haben in ihrem Leben leider so gut wie keinen Zugang zu Frühförderung, schulischer Bildung oder informeller Erziehung erfahren und kommen im jungen Erwachsenenalter nach Roshni. Bis dahin haben sie in ihren Herkunftsfamilien schon viel erlebt, was meistens keine wertschätzenden und liebevollen Umgangsformen sind. Das heißt, emotionale, rhythmische, hygienische und soziale Fähigkeiten werden erst im Erwachsenenalter allmählich entwickelt und ausgebildet.
Die Mitarbeitenden haben keine Vorbilder, wie die Lebensgestaltung aussehen könnte. Einerseits weil es keine Ausbildung dafür gibt und andererseits, weil es keine vergleichbaren Orte gibt. Was es gibt, sind Bildungsangebote für junge Menschen mit Assistenzbedarf im Übergang Schule-Beruf sowie Ausbildungen für Menschen mit körperlichem Assistenzbedarf, aber keine Fachkraft-Ausbildungen.
Seit einiger Zeit gibt es eine erfreuliche Zusammenarbeit mit der Hunar Foundation. Hier werden Menschen mit geringer schulischer Grundbildung als Pflegeassistent:innen über sechs Monate ausgebildet. Bei einem Treffen mit der Leitung dieser Weiterbildung wurde deutlich, dass es in dieser Weiterbildung keinen Schwerpunkt auf eine Arbeit mit Menschen mit kognitiver Einschränkung gibt. Die Weiterbildung ist für eine Arbeit in Krankenhäusern und Altersheimen ausgerichtet.
Wir konnten ein großes Interesse an unserem Arbeitsfeld bei den beiden verantwortlichen Psychologinnen wecken und an einem Tag durfte ich für die beiden aktuell laufenden Kurse eine Einheit zu professioneller Haltung in der Arbeit mit Erwachsenen mit Assistenzbedarf mit sozialkünstlerischen Übungen unterrichten. Es wurde deutlich, dass das unbedingt in dieses Curriculum dazu gehört und man wünscht sich nun, dieses Thema regelmäßig in der Assistenzausbildung einzubinden. Ich hoffe, dass ein Kollege aus Roshni diese Aufgabe übernehmen wird.
Im Weiteren haben sich die Kolleg:innen von Roshni in der zweiten Woche meines Aufenthaltes viel Zeit genommen, die Arbeit in der Organisation gemeinsam anzuschauen und Strukturen zu finden, die den Herausforderungen entsprechen. Denn die aktuelle Struktur im Wohnen sowie in der Tagesgestaltung macht es schwierig, die vielfältigen Bedürfnisse der Klient:innen abzuholen oder im Sinne der UN-BRK an einem adäquaten Bildungsimpuls arbeiten zu können.
So konnten wir in sorgfältigen Gesprächen aus der tiefen Wahrnehmung hineinspüren, welche Angebote für die Zielgruppen passend sind.
Im Laufe der Woche haben wir ein Konzept entwickelt, das Prototypen, kleine Momente der Umstrukturierung, aufzeigt und somit Strukturen und Tätigkeiten schafft, die den Menschen Fähigkeiten-orientiert entsprechen.
Ich wünsche den Kolleg:innen jetzt Mut, Durchhaltekraft und Willen, diese praktischen Ideen Schritt für Schritt umzusetzen.
Ein anderes Thema, an dem wir gearbeitet haben: Finden wir eine einfache Methode der «Klient:innenbeobachtung» als praktisches Tool, das als Wahrnehmungs- sowie Reflexionsmethode samt Dokumentation von den Mitarbeitenden genutzt werden kann? –Hierfür konnten wir eine kleine Handreichung mit einem strukturierten Vorgehen entwerfen.
Wir bleiben in Kontakt – das ist klar, denn die Beziehung samt der professionellen Zusammenarbeit war wunderbar, vertrauensvoll und zukunftsgerichtet und einige Mitarbeitende sind mit dem Ort sehr verbunden und interessiert an Entwicklung – Inshallah!
GREEN EARTH ROSHNI SCHOOL
Was Rudolf Steiner vor über 100 Jahren mit der ersten Waldorfschule geschaffen hat, wurde in Lahore vor 19 Jahren aufgegriffen: Eine Waldorfschule (bis zur 8. Klasse) wurde mit der Unterstützung eines Unternehmers, dem Gründer von GREEN EARTH gegründet. Die Schüler:innen sind Mitarbeiterkinder des Unternehmens, der Kolleg:innen der Gemeinschaft Roshni, und Kinder aus der unmittelbaren Umgebung, egal mit welchem familiären oder finanziellen Hintergrund, sowie Kinder mit Assistenzbedarf.
Ein bunter inklusiver Bildungsort mit einem Kindergarten und vielen engagierten Lehrerinnen, die sich mit der Waldorfpädagogik identifizieren – die Lehrpersonen sind ausschließlich weiblich und die Schüler:innen sind zu 80 % Mädchen! Frauenpower – denn es begegneten mir sehr selbstbewusste junge Mädchen und Lehrerinnen!
Andreas Pelzer, Waldorflehrer aus Berlin, kommt seit der Gründung 2006 nach Lahore, um mit den Lehrerinnen Waldorfpädagogik zu erarbeiten. In den letzten Monaten konnten die Lehrerinnen an einer Online-Schulung teilnehmen, die sie als sehr inspirierend erlebt haben.
Am Karfreitag – in einem islamischen Land kein Feiertag, aber aufgrund vieler Christ:innen in Roshni und der Schule – hatten die Kinder schulfrei und wir konnten eine Weiterbildung für die Lehrerinnen anbieten: Eurythmie für den rhythmischen Teil am Morgen und das eurythmische Alphabet als Unterstützung für das Schreiben und Lesen lernen. Das war eine sehr freudige Runde mit viel Interesse und Humor!
Überraschenderweise war in diesen Tagen auch Farrah Hussein aus London in Lahore, eine pakistanische anthroposophische Kinderärztin. Einen Tag waren wir gemeinsam in der Schule, auch um ein Gespräch mit den Lehrerinnen zu den Kindern mit Assistenzbedarf zu führen, denn auch hierfür gibt es keine Ausbildung. Das Erfreuliche ist: Farrah wird im Sommer drei Module online zur grundlegenden Konstitutionsdiagnostik unterrichten. Ein wunderbares Angebot, ein Anfang, der sicher eine Forstsetzung haben wird. Danke!
Community Based Rehabilitation
Die dritte Initiative in Roshni besteht in Zusammenarbeit mit der Amin Maktab Foundation und gilt der aufsuchenden Sozialarbeit in ländlichen Gebieten von Familien mit Kindern mit Assistenzbedarf.
Hierfür werden Menschen ausgebildet und kleine Kompetenzzentren entwickelt, um Familien in herausfordernden Situationen zu begleiten. Eine sehr wertvolle Arbeit, die sich immer weiter ausdehnt und auch von einer wissenschaftlichen Forschung begleitet wird.
Wir hoffen sehr, diese Arbeit zu gegebener Zeit auch in unserem Arbeitsfeld sichtbar machen zu können.
Ich hatte jetzt jedoch keine Möglichkeiten, dieses Arbeitsfeld tiefer kennenzulernen. Das war inhaltlich und zeitlich zu viel.
Alle mir bekannten Organisationen des Netzwerks rund um Roshni finanzieren sich komplett aus Spendenzuwendungen.
Wenn Sie die Arbeit in Roshni und der Schule unterstützen möchten, dann spenden Sie gerne hier