Aus der Michaelschule in Tbilisi (Georgien)
Von Janette Gülker-Neuhaus
In diesem Frühjahr war mein Aufenthalt in Georgien und in der Michaelschule geprägt durch neue Bedingungen. Es gab eine ungewöhnliche tiefe Winterzeit im März und die Auswirkungen des Ukraine Krieges durch Russland waren sehr gegenwärtig.
Täglich Schnee und Schneeregen dauerten bis in den April hinein. Es war oft bitterkalt und die Fallwinde fegen durch die Stadt. Kinder und Jugendliche blieben wegen der Wetterbedingungen über Wochen zuhause. Manche Lehrerinnen und Schüler konnten wirklich nicht kommen, weil es in ihrer Gegend keinen Schneeräumdienst gibt.
Auf den Straßen in Tbilisi ist die russische Sprache auf einmal sehr präsent. Junge Russen, zum Teil mit ihren Familien, auch zahlreiche Ukrainer und Menschen aus anderen slawischen Ländern verändern das gewohnte Stadtbild. Die meisten Georgier bringen den russischen Gästen wenig Sympathie entgegen – zu tief sitzt der Argwohn. Warum kommen diese vielen russischen jungen Menschen auf einmal nach Georgien?
Ich selbst werde zum ersten Mal seit meiner zahlreichen Besuche in diesem Land ab und zu für eine Russin und häufig für eine Ukrainerin gehalten. Einige Male möchten mir sogar mitleidige Georgier ein paar Lari zustecken. Sehe ich wirklich so bedürftig aus?
In der Schule wird derweil neben dem Unterricht geschliffen, gehämmert, lackiert und ausgebessert. Die längst geplanten Renovierungsarbeiten kommen endlich in Gang. Marina Shostak, die Gründerin und Schulleiterin der Michaelschule und ihr Team schaffen es, für diese Arbeiten Handwerker zu engagieren, die ihre Sache mehr oder weniger gut machen. Mit den beiden jüngeren Frauen kämpfen sie sich durch und sie machen ihre Sache gut, vor allem Nini Gelashvili (verantwortlich für die Verwaltung) und Tamta Tatulashvili (Psychologin und verantwortlich für die Pädagogik), die sich nicht beirren lassen und sich tätig in die neue Situation stellen.
Binnen weniger Wochen sind die Kosten für das tägliche Leben enorm angestiegen, die Fahrten mit Metro, Bus und Marschroutka sogar um 100%. Auch die Preise für Elektrizität und Heizung wurden mächtig angehoben und selbst die Grundnahrungsmittel wie Brot, Gemüse, Getreide und Milchprodukte sind um einiges teurer geworden. Für die vielen Menschen, deren Einkommen sich an der unteren Grenze bewegt, bedeutet das eine große Herausforderung.
Es berührt mich, zu erleben, wie die Michael – Schulgemeinschaft sich, nicht zuletzt durch die Verluste und Schwierigkeiten, immer stärker zu einer Schicksalsgemeinschaft bildet. Sie gehören zusammen, die Lehrer:innen und Schüler:innen der ersten Stunde und all die nachfolgenden Kinder und Erwachsenen. Kinder, Lehrer:innen und Eltern wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können. Sie fühlen sich verbunden in dem Bestreben, eine Schule und Ort zu sein für die Kinder und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen. Die Großen helfen mit bei den täglichen anfallenden Arbeiten, putzen Gemüse, versorgen den Müll, räumen den Hof auf und fühlen sich mitverantwortlich für das Wohlergehen der Jüngeren.
Ich darf aus der Erfahrung sagen, dass die Michaelschule eine liebegetragene Gemeinschaft ist.
Alle geben immer wieder ihr Bestes und doch scheint es nicht auszureichen. Durch meine Hospitationen in den Klassen wurde uns allen sehr deutlich, wie herausfordernd die Kinder sind und wie notwendig eine noch intensivere Begleitung und therapeutische Angebote sind. In diesem Zusammenhang entstand der Wunsch nach einem sogenannten Sinnesgarten, in welchem die Kinder in Begleitung von Erwachsenen täglich verschiedene Sinneseindrücke erfahren und so ihr Selbsterleben stärken können. Die Lehrerinnen selbst brauchen Ermutigung und Anregungen, wie sie zu heilpädagogischen Intuitionen kommen. Für ihren Lebensunterhalt sind sie dringend auf besseren Lohn angewiesen. Zwar sind die Eltern der Kinder dankbar, dass es die Michaelschule gibt, doch mit ihrer Unterstützungsarbeit, ihrem Mut und ihrer Gewissheit, dass es sich lohnt, Zeit, Kraft und Geld für diese Sache einzusetzen, sind sie zumeist zögerlich.
Wieder habe ich das Glück, über Wochen Tag für Tag zu erleben, wie sich alle um ein gutes Miteinander, um ein fruchtbares Schulleben bemühen. Die Geduld ist groß und das Erleidens-Potenzial auch. Selten wird eine Grenze gezogen, die verdeutlicht, dass es hier nicht weitergeht. Vor allem die Lehrer:innen verlangen sich unendlich viel ab, um den Kindern treue und liebevolle Begleiter:innen zu sein.
Die Sonnenstrahlen, die uns zwischendurch schon wärmen, wecken die Gemüter der Kinder. Plötzlich zeigen sich ausgelassene Schüler und Freudenjauchzer steigen hoch in die grünenden Bäume und Büsche. Mit ihrer guten Laune erreichen sie auch die Erwachsenen. Wie weggeblasen die Sorgen um das sich täglich verteuernde Leben und um die Zukunftsungewissheit – zumindest für eine Weile.
Ein kleines, aber sehr engagiertes Weiterbildungsseminar trifft sich an der Michaelschule wöchentlich zur gemeinsamen Arbeit und in Abständen zum Blockseminar. Ich habe Glück und kann mit den fünf Studentinnen am Thema ‚Die zwölf Sinne‘ arbeiten. Herzliche, offene und interessierte junge Menschen, die sich mit Freude und Begeisterung den heilpädagogischen und anthroposophischen Themen widmen. Unter ihnen ist sogar ein angehender Pater des Karmeliter Ordens, der in Georgien auch heilpädagogische Einrichtungen unterhält. Ob sich unter ihnen auch eine zukünftige Mitarbeiterin für die Michaelschule befindet?
Einige Lehrerinnen werden im Sommer die Schule verlassen: Lali, die von Anfang an dabei war und eine tragende Säule im Schulleben ist; Barbara, eine deutsche Eurythmistin, die seit 1998 der Schule treu mit Eurythmieunterricht, Heileurythmie und später auch mit Chirophonetik zur Seite stand und schließlich Nino, die Klassenlehrerin der achten Klasse. Neben den jeweils persönlichen Gründen spielt der geringe Verdienst leider auch eine Rolle. Trotz der einzigartigen stetigen Unterstützung durch die Freunde der Erziehungskunst dank Nana Göbel reicht das Gehalt für den regelmäßigen Lebensunterhalt wieder nicht aus. Manche behelfen sich damit, dass sie einen Nebenjob annehmen, wie damals in den neunziger Jahren, als Georgien sich im Umbruch befand. Andere sehen sich nach wirtschaftlich besseren Möglichkeiten um – was allzu verständlich ist!
Zum ersten Mal beschleicht mich in dieser Zeit die Befürchtung, dass die Michaelschule sich über kurz oder lang wirtschaftlich vielleicht nicht mehr wird halten können. Von den Schulbehörden ist keinerlei weitere Unterstützung in Sicht. Eine Schule für Kinder und Jugendliche mit extremem Unterstützungsbedarf findet in Georgien leider überhaupt keine Lobby. Natürlich kann sich die Michaelschule jederzeit in ein qualitativ gutes Tageszentrum umwandeln und somit weiter existieren. Aber was wird dann aus dem Schulimpuls? Allen diesen besonderen Kindern eine schulische Bildung zu ermöglichen, das war und ist der Impuls der Michaelschule und das Kollegium setzt sich noch immer für dieses Ziel ein. Ich wünsche ihnen und der Schule sehr, dass sie es schaffen!
Mit dem schöner werdenden Wetter und der wärmenden Sonne erwachen neue Lebensgeister, Hoffnung und Zuversicht kehren zurück.
Der Frühlingsbasar bringt alle zusammen, ein sensorischer Garten mit vielerlei Möglichkeiten der Sinneserfahrungen wird geplant und in ersten Ansätzen in die Tat umgesetzt. Für die weiteren Schritte sammeln wir Spenden.
Ja, wie geht es weiter?
Wenn Jemand Ideen hat, darf er gerne mit mir Kontakt aufnehmen: janette@guelker-neuhaus.de
Herzlich Willkommen: Bei der kommenden Herbsttagung 2022 am Goetheanum werden Marina, Nini, Tamta und ich eine Arbeitsgruppe anbieten: Wie kann ein gesunder Generationswechsel gestaltet werden?
Mit herzlichen und hoffnungsvollen Grüßen!
Eure Janette Gülker-Neuhaus aus Everswinkel/Deutschland, 01.05.2022
Kontaktperson des Councils: Sonja Zausch, s.zausch@inclusivesocial.org