Inklusives Theater in Bischkek/Kirgistan im April und Mai 2025

Inklusives Theater in Bischkek/Kirgistan im April und Mai 2025

Bericht von Christoph Stolzenburg, Initiator und Regisseur des Inklusiven Theaters in Bischkek, Kinderarzt aus Marbach/Deutschland

 

 

Das Theater für Kinder und Jugendliche in Bischkek besteht seit 2013 und seit 2015 als inklusives Theater.

Beteiligt sind Kinder und Jugendliche des Rehabilitationszentrums ÜMÜT-NADJESCHDA, Kinder der Schule Nr. 72 aus der Nachbarschaft und manchmal auch Kinder aus anderen Schulen.

Bisher spielten wir vier verschiedene Stücke aus dem kirgisischen Epos MANAS. Danach „Der erste Lehrer“ von Tschingis Aitmatov, dann „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz, „Momo“ von Michael Ende und in diesem Jahr „Das kalte Herz“ von Wilhelm Hauff. Alles in eigens von mir für uns verfassten Theaterversionen.

Mitspielende waren in diesem Jahr 10 Kinder und Jugendliche von ÜMÜT-NADJESCHDA, welche die meisten Hauptrollen spielten. Dazu kamen fünf Mädchen und drei Jungen, alle 13 Jahre alt, aus der Schule Nr. 72 in der Nachbarschaft. Und zwei Vorschulkinder.

Mitwirkende waren außerdem acht deutsche freiwillige Sozialpraktikant:innen, die sich um die Kulissen, die Theaterprospekte, die Musik und den Probenablauf kümmerten. Weitere Unterstützung erhielten wir von Lehrer:innen und Mitarbeiter:innen der Schulen, besonders von ÜMÜT-NADJESCHDA, bei der Organisation, dem Lernen der Texte, den Requisiten, den Kostümen, den Fahrten, der Verpflegung u.a. Eine große Hilfe war die Regieassistentin und Musikerin Elmira.

Vorarbeit

Im Dezember konnte ich schon „Das kalte Herz“ in Pavlodar/Kasachstan mit erwachsenen Menschen mit Behinderung und vielen Jugendlichen einstudieren und zur Aufführung bringen. Nun hatte ich die Texte für uns in Kirgistan verändert und erweitert. Vorher wurden die Rollen verteilt und die zeitlichen Möglichkeiten besprochen.

Proben

Anfangs übten wir in einem kleinen Kellersaal des Zentrums, oft nur einzelne Akte mit 3 – 5 Spieler:innen, mit kleinen Übungen, vielen Wiederholungen; alles war noch offen…

Dann konnten wir schon bald täglich im Theatersaal bzw. auf der Bühne proben. Jasin, der Fahrer, fuhr uns täglich durch unbekannte Straßen an den verstopften Hauptstraßen vorbei zum Theater.

Wie war es dort?

  • Alle setzten sich in einen Kreis, also 20 bis 25 Leute etwa.
  • Nach der oft namentlichen Begrüßung aller untereinander berichteten manche Kinder, wie es ihnen ging.
  • Dann erzählte ich zum Beispiel etwas über Wilhelm Hauff oder wir sprachen über „Das kalte Herz“. (Viele haben unser Stück gar nicht etwa als historisches Werk verstanden, sondern als „Theater unserer Zeit“, als „genau für jetzt, 2025“). Oder wir machten kleine mimische, gestische, sprachliche Übungen. Mit genauen Beobachtungen. Was hören wir und was sehen wir, wenn jemand bloß „Ja“ oder „Nein“ sagt? Wie unterschiedlich können wir „Ja“, „Nein“, „Komm her!“ usw. spielen?
  • Dann folgten Proben eines Aktes mit vielen Unterbrechungen und darauf einmal ohne Pausen.
  • Es gab ein Frühstück. Die Gymnasiast:innen blieben lieber unter sich und setzten sich zusammen an einen Tisch. Die Kinder mit Assistenzbedarf – auch weil einige gefüttert werden mussten – saßen an einem anderen Tisch. Aber sonst waren alle viel zusammen, redeten, lachten, spielten miteinander.
  • Dann gab es erneut Proben bis zum Mittagessen oder noch länger.

Die Proben waren für alle eine sehr bereichernde Erfahrung. Die Aufmerksamkeit war sehr groß. Die Schüler:innen aus der Nachbarschaftsschule saßen hinten auf der Bühne und verfolgten alles ziemlich brav, bis sie drankamen (natürlich auch mit ein wenig Gerede und Neckereien …) Und das Handyverbot wurdeeingehalten!

Immer wieder versuchte ich, schauspielerisch etwas darzustellen und so gab es auch einiges zu lachen. Jeden Abend übte ich einige Rollen allein und vergegenwärtigte mir die gesamte Regie.

Therapeutische Elemente

Bewegung: Für ein Kind mit infantiler Zerebralparese kann es viel bedeuten, seine Hände nach oben zu öffnen, einem Gegenstand entgegen diesen in Empfang zu nehmen. Es richtet sich auf, der Tonus der Hände löst sich etwas, die Mimik entspannt sich … Es wirkt wie eine kleine Befreiung. Den Kindern mit spastischen Paresen gelingt es oft nicht gut, sich im Raum zu orientieren, z.B. einen Kreis zu laufen. Sie kürzen gerne ab. Das mussten einige oft üben. (Solche kleinen Bewegungs- und Gleichgewichtsübungen sind eine Basis für wichtige kognitive Fähigkeiten in der Zukunft, z.B. räumliche und zahlenmäßige Vorstellungen). Übrigens fiel es auch den Schüler:innen aus dem Gymnasium sehr schwer, z.B. einen simplen Kreistanz fehlerfrei zu tanzen.

Sprechen:  Für die meisten Kinder ist das nicht leicht. Vielfach gelingt die Artikulation nicht gut. Oder die Stimme ist zu schwach. Es war erstaunlich, wie die Stimmkraft bei allen im Laufe der Proben sich gestärkt hat. Bei einem Jungen mit Tetraparese machten wir es so: Die Betreuerin sprach die einzelnen Sätze dem Publikum vor. Der Junge durfte diese dann zweimal nachsprechen – mit großer Intensität und Anteilnahme aller.

Haltung/Rolle: Ein:e Schauspieler:in sollte auch dann spielen, wenn er gerade nichts sagt. Er sollte also in der Rolle bleiben. Allein den Blickkontakt zu wahren und nicht z.B. nach oben zu schauen („Warum schaust du da hoch? Fliegt dein Sohn da im Himmel rum?“), ist manchmal eine starke Willensleistung.

Kommunikation: Welch große Sache kann das bedeuten, eine Rolle zu spielen: Einen jungen Burschen, eine besorgte Mutter, einen Bösewicht, eine kecke Freundin, einen Betrunkener – und nicht nur zu spielen, sondern die Figur auch „zu sein“! Das ganze Menschsein in allen Höhen und Abgründen! Und mein Gegenüber, auch er/sie ist jetzt jemand anderes … Schließlich gehört zur Kommunikation die Resonanz mit dem Publikum: Es hat uns „getragen“, beim Singen „gehoben“.

Die Idee des Stückes: Ich suchte solche Werke, die eine Entwicklung, eine Wandlung aus einer Ausweglosigkeit zeigten. Solche „Wandlungsszenen“ gelangen oft besonders gut. Manche im Publikum waren zu Tränen gerührt. (Die große Anteilnahme der Zuschauenden war nur möglich, weil auch da Handys nicht erlaubt waren).

Kulissen/Theaterprospekt/Beleuchtung

Das waren die Aufgaben zusammen mit den acht deutschen Jahrespraktikant:innen und anderen. Wir bemalten unsere vorhandenen Kulissengestelle mit neuen Bildern. Und malten in vielstündiger Arbeit zwei neue Theaterprospekte (7,5 m x 3,5 m). Eine kirgisische Künstlerin half uns und verschönte sie. Die Sozial- praktikant:innen beteiligten sich dann auch mehr und mehr bei den Proben, bei Regiebesprechungen, Kulissenumbau, Rollstühlen, Requisiten, Beleuchtung, Vorhang usw.

Musik

Die Musik für die Kinder und Jugendlichen hat im Wesentlichen Elmira als Musikerin eingeübt. Die geplante „Zwischenaktmusik“ (es gab 8 Akte mit 7 geplanten kurzen Musikeinlagen) war nicht so realisierbar, wie ich es wollte. Wenige der deutschen Sozialpraktikant:innen waren zum Singen bereit oder in der Lage. Die meisten konnten auch keine Noten lesen. So gab es Geigenduette von Charles-Auguste de Beriot, gespielt von der Praktikantin Minna Omahen und mir.

Aufführungen

Es gab drei Aufführungen. Eine in dem Kulturpalast von Kemin (mit Lenin-Statue davor), 180 km östlich von Bischkek. Auf einer sehr großen Bühne ohne Vorhang und ohne Theaterbeleuchtung. Es war ein Abenteuer. Unsere beiden Busse wurden morgens mit Blaulicht und Martinshorn von der Polizei durchs verstopfte Bischkek geleitet. Und wir spielten dann nach einer kurzen Stellprobe unter ganz neuen Umständen. Zwei Aufführungen gab es dann in unserem kleinen Theater des Zentrums in Bischkek. Überall Standing Ovations!

Der äußere Erfolg hat uns natürlich sehr gefreut. Nach der letzten Aufführung gab es ein Buffet auf dem Hof und viele Gespräche. Alle Beteiligten waren überglücklich.

In diesem Jahr gab es auch große Anerkennung in der Öffentlichkeit: Einige Tage später wurde in einer großen Stadthalle ein Fest für ÜMÜT-NADJESCHDA veranstaltet. Ein Unterstützungsfest eines bekannten Bischkeker Unternehmers. Ein Teil der Kinder führte dort Szenen aus dem Stück „Der erste Lehrer“ (unser Spiel 2021) auf. Ich wusste davon vorher nichts! So sollte es sein, dass nämlich die Arbeit einmal ohne mich weiter geht! Dann gab es Tanz- und Musikdarstellungen auswärtiger Gruppen und viele Reden. Ich erhielt Dankes-Urkunden vom Sozialminister und der Bildungsministerin.

Schließlich wurde ich auch vom „Tschingis-Aitmatov-Fond“ für Verdienste im Sinne Aitmatovs (für Friede, Humanität, Völkerverständigung und Inklusion) von seinem Sohn Eldar ausgezeichnet.

Der verborgene, länger wirkende innere Erfolg ist gewiss noch wichtiger:

  • Unser Theater ist eine Theaterarbeit mit therapeutischer Kraft. Gewiss ersetzt das keine Therapien. Aber es hat für alle erkennbare positive Wirkungen, besonders bezüglich Motorik, Sprache und für das Selbstbewusstsein. Wenn es auch manchmal Jahre braucht, bis es sich zeigen kann.
  • Unser Theater ist ein soziales Übungsfeld für alle Beteiligten.
  • Unser Theater ist ein inklusives Theater für und mit Allen – auch in seiner Außenwirkung. Denn immer noch bestehen viele Vorurteile, viel Ablehnung aus Unkenntnis gegenüber Menschen mit Behinderungen in Kirgistan.

Dank

Ein großer Dank sei ausgesprochen an alle Mitarbeitenden von ÜMÜT NADJESCHDA und der Schule Nr. 72, an die deutschen Sozialpraktikant:innen, an die vielen Förderer in Deutschland und vor Allem an die wunderbar mitspielenden Kinder und Jugendlichen! Herzlichen Dank auch an die Dokumentarfilmerin Tamara Kubaeva für den Film (mit deutschen Untertiteln).

 

Kontakt:

chr.stolzenburg@gmail.com