«Jede Begegnung ist eine lebendige Situation, die noch nie da war.»

«Jede Begegnung ist eine lebendige Situation, die noch nie da war.»

Eindrücke einer kleinen Schweizreise

Im Juli 2022 haben wir – Stefanie Schälin und Sonja Zausch – eine Lernreise in der Umgebung von Bern gemacht und dabei Gemeinschaften und Menschen des anthroposophischen Sozialwesens besucht. Sonja (Leitungsmitglied des Anthroposophic Council for Inclusive Social Development) und Stefanie (Leiterin des Schweizer Forschungsprojektes «Beiträge von Menschen mit Beeinträchtigungen für ihr soziales Umfeld») arbeiten auch gemeinsamen für das Projekt «in guter Gesellschaft – Inklusion leben» des deutschen Bundesverbandes Anthropoi. Von diesen verschiedenen Perspektiven herkommend, war die Intention der Besuche, einen Einblick in aktuelle Fragen, Herausforderungen, aber auch Zukunftsvisionen an den Orten der lebendigen Praxis zu gewinnen. Dabei interessierte uns insbesondere das Thema der Inklusion und Teilhabe im Sinne der UN Behindertenrechtskonvention (UN BRK) sowie der Haltung der Gemeinschaften.

Die erste besuchte Institution war die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Humanushaus in Rubigen. Bei einer Führung durch den Landwirtschafts- und Gärtnereibetrieb lernten wir den engagierten Mitarbeiter Adrian kennen. Dieser erzählte uns stolz und glücklich, dass er gerne hier arbeitet, weil es abwechslungsreiche Arbeit ist, ihm die Zusammenarbeit mit Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf Spass macht und er dankbar ist, in seinem eigenen Rhythmus arbeiten zu können:

Abbildung 1: Im Garten des Humanushauses trafen wir auf zwei Menschen, welche achtsam Ringelblumen für die Tee-Produktion pflückten.

Abbildung 2: Wussten Sie, dass es einen kleinen Friedhof gibt, der zum Humanushaus gehört? Dieser wird uns als Ort der Andacht und Stille in Erinnerung bleiben.

In einer Gesprächsrunde mit Mitarbeitenden vom Humanushaus unterhielten wir uns über die Frage, wie wir persönlich und die begleiteten Menschen mit der Welt verbunden sind. Schnell wurde deutlich, wie komplex diese Frage ist. Das Humanushaus zeigt sich als eine Gemeinschaft mit Dorfcharakter, wodurch zwischenmenschliche Begegnungen und die daraus entstehende Verbundenheit wesentliche Alltagserfahrungen bilden. Auf dem Gelände werden Menschen angetroffen, die sich mit dem Leben beschäftigen, und eine Haltung, bei der alle Perspektiven als wertvoll einbezogen werden. Ein Gesprächsteilnehmer warf die Frage auf, ob diese «Humanuswelt» nicht zu klein ist und es eine Öffnung bräuchte. Auf der einen Seite besteht der Wunsch, inklusive Räume über das Humanushaus hinaus zu intensivieren, also eine Geste der Öffnung in die Gesellschaft. Auf der anderen Seite steht das Anliegen, die Errungenschaften des sinnhaften und strukturgebenden Arbeits- und Wohnorts mit seinen anthroposophischen Qualitäten zu erhalten. Wie diesem Spannungsverhältnis begegnet werden kann, blieb und bleibt eine offene Frage. Klar ist, dass sich im Moment auch viele andere Gemeinschaften in dieser ambivalenten Situation befinden.

Diese Herausforderung war auch Thema bei der von uns als nächstes besuchten Institution, dem Haus St. Martin im Emmental. Geografisch ist dieser Ort so abgelegen, dass es keine Anbindung an den öffentlichen Verkehr gibt, was in der Schweiz selten ist. Viele Bewohner:innen leben schon sehr lange hier und eine Schwierigkeit stellt das immer kleiner werdende soziale Netz der begleiteten Menschen mit Unterstützungsbedarf dar. Umso mehr Gewicht wird der Beziehungskultur beigemessen und der Begegnung auf Augenhöhe. Das damit einhergehende Spannungsfeld von einerseits einer Nähe zum Menschen und professioneller Distanz andererseits ist präsenter Bestandteil im Arbeitsalltag.
In einer inklusiven Gesprächsrunde sprachen wir über den Morgenkreis und wie ein solcher heute aussehen könnte. Der tradierte Morgenkreis mit Anwesenheitspflicht und durchorganisierten Elementen ist heute weder zeitgemäß noch vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention. Trotzdem besteht der Wunsch nach morgendlichen Ritualen des Zusammenseins. Elemente dafür könnten beispielsweise ein Musikstück, ein gemeinsames Singen oder ein Ertönen der Klangschale als künstlerisches Element sein. Denkbar ist auch das Vorlesen des Seelenkalenders, wobei dessen Übersetzung in Einfache Sprache noch aussteht.

Abbildung 3: Inmitten der hügeligen Landschaft des Emmentals befindet sich das Haus St. Martin.

Abbildung 4: Caroline zeigte uns wortreich ihren Lebens- und Wohnort, das Haus St. Martin.

Die letzte Institution, die wir besuchten, war der Buechehof in Lostorf. In großen Schritten und fachkundig Auskunft gebend wurden wir von Sämi durch den Garten geführt. Er betonte immer wieder, inwiefern die Arbeit und die daraus entstehenden Produkte zum Verkauf in die Welt hinauskommen dürfen. Diese Sensibilisierung von Wertschöpfungsketten und gesellschaftlicher Teilhabe durchziehen viele Bereiche des Buechehofs: Der Verkauf von Gemüse an einem inklusiven Marktstand in der Stadt, der öffentliche Hofladen, Übernahme und Umbau des Dorfkiosks zu einem inklusiven Verkaufsort mit Cafébetrieb oder die Möglichkeit für drei Menschen aus dem Buechehof, extern in dorfansässigen Firmen zu arbeiten, zeugen davon. Bemerkenswert ist, dass die Nachfrage nach den Produkten des Hofes erheblich höher ist, als was produziert werden kann.

Abbildung 5: Sämi packt auch selbst an bei der Auslieferung von Produkten vom Buechehof. Ihm gefällt der Kontakt zu den Kund:innen.

Abbildung 6: Im gemeinsamen Gespräch über die Beschäftigungsangebote für Menschen mit Unterstützungsbedarf im Buechehof: «Wir nennen es Arbeit!»

An Innovationen, Ideen und Umsetzungen scheint es am Buechehof nicht zu mangeln. Dieser Erfolg hat aber auch seine Schattenseiten. Sonya, Mitglied des vierköpfigen Leitungsteams, berichtet uns davon, dass sie im Moment mehr Anfragen von Menschen mit Unterstützungsbedarf bekommen, als dass sie Plätze zur Verfügung stellen dürfen, obwohl sie die Kapazitäten für mehr hätten. Am Beispiel des langwierigen Prozesses der Anbringung eines offiziellen Schildes als Wegweiser zum Buechehof an der Straßenkreuzung wird bewusst, dass auch immer wieder und stetig um Anerkennung gerungen werden muss.

Bemerkt werden darf noch, dass sogenannte Quereinsteiger:innen im Berufsfeld der Sozialtherapie für uns besondere Gesprächspartner:innen waren. Vielleicht kann man das Entdecken der Arbeit und des Lebens mit Menschen mit Unterstützungsbedarf schicksalshaft empfinden, im Sinne von, hier können Zufriedenheit erlebt und Sehnsüchte erfüllt werden, die Menschen viele Jahre in anderen Arbeitsumgebungen suchen und in den anthroposophischen sozialen Zusammenhängen finden. Die Wirkung der Beziehung ist vielleicht die zentrale Fundstelle – und damit ist Beziehung und Kultur zur Natur, zum Wohnen, zur Pflege, zur Gesundheit, zu Lebensmitteln, zu Ritualen, zwischen Tieren und Menschen und vieles mehr gemeint.

Neben den Besuchen in Gemeinschaften haben wir uns auch mit weiteren aktiven Menschen rund um das anthroposophische Sozialwesen getroffen. So schauten wir uns das inklusive Atelier Rohling in der Stadt Bern an und lernten den dort tätigen Künstler Clemens Wild kennen. Er lebt im Humanushaus und arbeitet drei Tage/Woche im Atelier als Künstler. Seine Arbeiten werden auf dem freien Kunstmarkt verkauft und er hat ein starkes Anliegen, seine Werke im öffentlichen Raum gleichberechtigt sichtbar zu machen.
Wir unterhielten uns mit der Sozialpädagogin und Kulturmanagerin Andrea Brill, welche gerade dabei ist, einen inklusiven kulturellen Begegnungsraum ins Leben zu rufen und dabei die Vision einer «Verlern-Werkstatt» verfolgt.
Als Abschluss dieser Lernreise besuchten wir die Fachberaterin für Autismus Pascale Karlin im Berner Jura. Umgeben von ihrem wunderbaren Permakultur-Garten erzählt sie uns, wie wichtig das Dialogische und die Unmittelbarkeit bei einem Zusammentreffen sind: «Jede Begegnung ist eine lebendige Situation, die noch nie da war».
Bei allen besuchten Menschen und Gemeinschaften erlebten wir diese Lebendigkeit einer Begegnung. Spürbar war auch eine Dankbarkeit, in einem (absichtslosen) Gesprächsraum einen Moment verweilen zu dürfen, um dann auszusprechen, was einen gerade berührt, verbindet oder auch was Wünsche oder Visionen für das Zukünftige sein könnten: Sei dies die Intensivierung des inklusiven Austausches über die Institution hinaus, die Bekräftigung einer anthroposophischen (Grund-?)Haltung, die Wichtigkeit der Beziehungskultur oder die fortwährende Weiterentwicklung der eigenen Impulse.

Und so hat diese kleine Schweizreise dazu beigetragen, allen Beteiligten das Glück eines gemeinsamen Austausches zukommen zu lassen. Diesen Dialog möchten wir gerne weiterführen. Wenn wir Sie auch besuchen kommen dürfen oder aus anderen Gründen Ihr Interesse geweckt haben, so nehmen Sie gerne mit uns Kontakt auf. Wir freuen uns!

Stefanie Schälin (stefanie.schaelin@gmail.com)
Sonja Zausch (s.zausch@inclusivesocial.org)

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